Die digitale Transformation führt viele Unternehmen in ein Spannungsfeld zwischen den als notwendig erachteten Investitionen in neue Technologien und einem Perspektivwechsel in der Produktentwicklung – hin zu einem zeitgemässen, nutzerzentrierten Entwicklungsprozess.

Dabei geht es nich nur darum, die richtigen Technologien und Methoden zu implementieren. Die Fragen, die ein Unternehmen für sich und seine Kunden beantworten lauten viemehr:

  1. Welche Mehrwerte bietet das Unternehmen seinen Kunden?
  2. Wie kann das Unternehmen die Bedürfnisse und Erwartungen seiner Kunden erfüllen und übertreffen?
  3. Inwiefern berücksichtigt das Unternehmen Nachhaltigkeitsaspekte in seinen Produkten oder Dienstleistungen?
  4. Welche Massnahmen ergreift das Unternehmen, um umweltfreundliche Praktiken zu fördern und ökologische Auswirkungen zu minimieren?
  5. Inwieweit achtet das Unternehmen auf Fairness und ethische Geschäftspraktiken in seiner gesamten Wertschöpfungskette?
  6. Wie trägt das Unternehmen zur sozialen Verantwortung bei und engagiert sich für die Gemeinschaft?

Die Beantwortung dieser Fragen sind eng mit der strategischen Ausrichtung des Unternehmens verbunden und bestimmen sowohl seine Selbst- als auch seine Aussenwahrnehmung.

Joseph Schumpeter (*1) erkannte bereits vor über 100 Jahren, dass die Beantwortung dieser Fragen für ein Unternehmen überlebenswichtig werden wird. Er prognostizierte, dass Unternehmen, die diese Fragen nicht überzeugend beantworten können, vom Markt verschwinden werden. Er betonte auch, dass der Zweck eines jeden Unternehmens darin besteht, die Bedürfnisse der Kunden zu erfüllen.

Kundenbedürfnisse und Produktinnovationen: Eine Verbindung, die immer bestand

Kundenbedürfnisse und Produktinnovationen waren schon immer eng miteinander verbunden. Früher ging es bei der Entwicklung oder Verbesserung von Produkten hauptsächlich um neue oder verbesserte Funktionen. Heutzutage steht jedoch das Kundenerlebnis im Mittelpunkt des Entwicklungsprozesses.

Es ist nicht mehr so wichtig, was ein Produkt oder eine Anwendung kann, sondern vielmehr, was der Kunde bei der Nutzung erlebt.

Immer mehr Unternehmen erkennen die User Experience als möglichen Wettbewerbsvorteil. Eine gezielte Ausrichtung auf ein positives Nutzererlebnis scheint ein erfolgreicher Ansatz zu sein, insbesondere in Märkten, in denen Produkte kaum signifikante Unterschiede aufweisen. Unternehmen wie Apple oder Samsung machen dies schon seit Langem vor.

Kunden suchen Erlebnisse, die ihr Leben bereichern, und belohnen Unternehmen, deren Produkte dies ermöglichen – vor allem, wenn sie ihre Erwartungen übertreffen. Dabei geht es nicht nur um die Erfüllung von sogenannten «Do-Goals» (Handlungsziele der Nutzer), sondern auch um die Unterstützung der Anwender bei der Erreichung von ihren «Be-Goals». Bei diesen Zielen stehen die Nutzer selbst im Mittelpunkt, welche in der Regel Glück oder Zufriedenheit verspüren oder eine Identifikation oder Stimulation erfahren möchten. Weitere Informationen finden Sie dazu in meinem Artikel: «Was zeichnet eine gute User Experience aus?»

Was genau ist eine gute User Experience?

Selbst in der einschlägigen UX-Fachliteratur wird überwiegend von einer guten oder schlechten User Experience gesprochen. Dabei stellt sich mir die Frage, ob man die User Experience nur auf einer Skala von gut bis schlecht klassifizieren kann, ohne sie konkret zu beschreiben?

Wenn ich ketzerisch nachfrage, erhalte ich in der Regel die Antwort, dass ein Nutzererlebnis gut ist, wenn es die Bedürfnisse des Nutzers weitgehend erfüllt oder diese sogar auf unerwartete Weise positiv übertrifft.

Ich denke aber, das es nicht ausreicht, sich im Produktentwicklungsprozess ausschliesslich auf die Erfüllung der Nutzerbedürfnisse zu konzentrieren, da es sehr wohl verschiedene Lösungen geben kann, welche die Bedürfnisse in gleichem oder zumindest sehr ähnlichem Masse erfüllen können. Die Entscheidung für die eine oder andere Variante sollte daher nicht nur in dem Mass ihrer Nutzerbedürfniss-Befriedigung erfolgen, sondern u.a. auch ökonomisch begründet oder durch Nachhaltigkeitsaspekte beeinflusst werden.

Zudem umfasst ein «gutes Nutzungserlebnis» meiner Meinung nach viel mehr als nur die Erfüllung der Nutzerbedürfnisse, sie weist auch eine Tonality oder Stimmung auf, kann Begeisterung hervorrufen oder Assozziationen wecken. Diese Nutzererfahrung lässt sich viel besser durch eine Beschreibung des angestrebten Nutzererlebnisses definieren, als durch eine Auflistung von Nutzerbedürfnissen, die erfüllt werden sollen.

Eine gute Produktvision sollte daher immer eine solche «User Experience Beschreibung» enthalten, also eine detaillierte Beschreibung des gewünschten Produkt-Erlebnisses sowie der möglichen Gefühle und emotionalen Zustände, die Anwender bei der Nutzung eines Produktes oder Services erfahren können. Das kann in Form von Empathy Maps, Personas oder Customer Journey Maps geschehen. Solche Artefakte bilden eine gute Evaluierungs-Grundlage im Produktentwicklungsprozess und helfen allen Beteiligten, ihre Lösungsansätze nutzerzentriert zu bewerten.

Einflüsse auf das Nutzererlebnis

Einflüsse auf das Nutzererlebnis

Eine gute Productvision bildet das Fundament einer guten UX-Strategie

Der Begriff «Strategie» im Bereich der User Experience sorgt oft für Verwirrung. Daher möchte ich kurz definieren, was eine UX-Strategie ist:

Eine UX-Strategie ist ein langfristiger Plan, um alle Touchpoints eines Unternehmens oder Projekts mit der passenden User Experience auszustatten.

Eine UX-Strategie sollte nicht nur die User Experience beschreiben, sondern auch ein klares Verständnis aller Zusammenhänge und Konsequenzen auf qualitativer und quantitativer Ebene liefern.

Bei der Entwicklung einer ganzheitlichen UX-Strategie müssen neben den Bedürfnissen der Nutzer auch die wirtschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen sowie die Interessen des Unternehmens berücksichtigt werden. Und das muss nicht immer Gewinnmaximierung bedeuten. Wenn ich an übergeordnete Unternehmensziele denke, kann das auch bedeuten, ein Produkt zu entwickeln, das ein ganz bestimmtes Problem löst oder sich ökologisch nachhaltig verhält.

Diese Faktoren sind wichtig für die Entwicklung einer UX-Strategie:

  • Nutzer-Faktoren
    Bedürfnisse und Erwartungen der Nutzer/innen (Wie ist die Zielgruppe charakterisiert? Was sind ihre Bedürfnisse (die «Do»- und «Be»-Ziele), Probleme, Ängste, Schmerzen? Wie werden diese Bedürfnisse erfüllt?
  • Business-Faktoren
    Strategische Überlegungen (Was ist das Ziel des Projekts? Gibt es eine Geschäfts-, Unternehmens- oder Marketingstrategie, die berücksichtigt werden sollte?) und wirtschaftliche und technische Überlegungen (Gibt es einen Business Case oder zumindest fundierte Überlegungen zu Kosten und Dauer der Implementierung, zu Konkurrenzprodukten und zu den Merkmalen des Marktes und seines Potenzials?)
  • Produkt-Faktoren
    Das Produkt selbst oder, falls das Produkt noch nicht existiert, die Produktidee (Welche Probleme löst es? Welche Bedürfnisse befriedigt es? Welche Funktionen oder Eigenschaften werden benötigt?)

UX-Designer allein können keine UX-Strategien entwickeln

Der Begriff «User Experience» wird häufig mit «Design» oder «Designer» verbunden. Unternehmen, die auf den UX-Zug aufspringen wollen, ändern ihre Stellenausschreibungen für Interface- oder UI-Designer in Stellenausschreibungen für UX-Designer.

Die schnelle Assoziation von UX mit Design ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass die «Design-Thinking» Methodik den Begriff «Design» in die Produktentwicklung gezogen hat. Dort wird «Design» nicht im Sinne von Interface- oder Produktdesign, sondern im Sinne eines allgemeinen Prozesses der Ideen- oder Lösungsfindung benutzt und so sollte man auch den den Begriff «UX-Design» verstehen.

«Design-Thinking» hat die Art und Weise, wie Designer Probleme lösen, in eine universelle Methodik übertragen. Es basiert auf der Annahme, dass die meisten Kreativitätstechniken und Design-Entwicklungsmethoden auch in anderen Bereichen angewendet werden können. Dabei stehen die Einbeziehung der Nutzerperspektive in den Entwicklungsprozess und die Fokussierung auf eine möglichst optimales Nutzungserlebnis im Mittelpunkt der Lösungsfindung. Aber auch ökonomische und technologische Faktoren werden dabei in hohem Masse berücksichtigt.

Um alle diese Faktoren zu untersuchen und zu berücksichtigen, ist es notwendig, möglichst alle relevanten Stakeholder aus dem Management, der Produktion, der Forschung und dem Marketing/Vertrieb miteinzubeziehen. Aus diesem Grund kann die Entwicklung einer UX-Strategie auch nicht die Aufgabe eines Designers oder der Marketing-Abteilung sein, sondern sollte auf einer übergeordneten Ebene erfolgen. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, dass die Entwicklung von Marketingaktivitäten immer auf einer UX-Strategie basiert, da ein optimales Nutzererlebnis die Grundlage für die Einlösung des Marken- und Produktversprechens an jedem Touchpoint ist.

So sollten beispielsweise Produktdesign und Marketing in die gleiche, in einer UX-Strategie definierte Richtung gehen, um ein ganzheitlich optimales Nutzererlebnis zu gewährleisten.

Strategische UX-Kompetenz ist aus dem erfolgreichen Unternehmensmanagement der Zukunft nicht mehr wegzudenken.

Eine erfolgreiche UX-Strategie erfordert eine ganzheitliche Betrachtung und Abstimmung verschiedener Aspekte wie Nutzerbedürfnisse, Geschäftsziele, technologische Möglichkeiten und Marktfaktoren.

Was beinhaltet eine UX-Strategie?

Was bisher weitgehend durch eine umfassende «Corporate Identity» definiert bzw. beantwortet wurde, sollte einem zeitgemässeren, bedürfnisorientierten Konzept weichen. Die Kernfragen «Wie werde ich wahrgenommen? Wie will ich gesehen werden und was kann ich tun, um so gesehen zu werden, wie ich gesehen werden will?» transformieren dabei zu kundenorientierten Fragestellungen. Es wird nicht mehr gefragt, welches Image für die Ziele des Unternehmens wertvoll ist, sondern was die Kunden und Mitarbeiter vom Unternehmen erwarten.

Eine UX-Strategie lässt sich daher auf die Beantwortung weniger Fragen reduzieren:

  • Welche Bedürfnisse und Wünsche haben unsere (potenziellen) Kunden?
  • Was erleben Menschen an den Touchpoints unseres Unternehmens?
  • Was wünschen sich unsere (potenziellen) Kunden dort zu erleben?
  • Was bedeutet das für unser Unternehmen?
  • Wie können wir innovative Geschäftsmodelle entwickeln, um das Nutzungserlebnis für unsere Kunden zu verbessern?

Für viele ist es noch ungewohnt, dass diese Kommunikationsfragen nicht mehr im Marketing, sondern auch auf einer höheren oder vorgelagerten Ebene beantwortet werden müssen. Mit anderen Worten: Während die Definition und Umsetzung der Unternehmensidentität (CI) als Kernaufgabe des ganzheitlichen Marketings angesehen wird, sollte die Entwicklung und Umsetzung einer UX-Strategie dem Marketing übergeordnet sein. Dies schmälert keineswegs die Rolle einer Corporate Identity, sondern gibt ihr vielmehr den notwendigen Treibstoff für eine effektive und vor allem nutzerzentrierte Definition ihrer einzelnen Elemente.

Eine UX-Strategie beinhaltet daher nicht nur eine detaillierte Beschreibung der gewünschten User Experience, sondern vor allem auch der zu lösenden Probleme. Diese Probleme sollten über eine einfache Definition von Herausforderungen hinausgehen. Sie sollten vorhandenes Marktwissen mit Daten aus der Nutzerforschung kombinieren und Lösungen oder strategische Handlungsempfehlungen enthalten. Dazu gehört eine Roadmap, die aufzeigt, was wann geschehen muss, um die gewünschten Ziele zu erreichen sowie einen Plan für die Erfolgskontrolle.

Exemplarischer Aufbau einer UX-Strategie

Merkmale einer guten UX Strategie

Herausforderungen bei der Entwicklung einer UX-Strategie

Eine Herausforderung bei der Entwicklung einer guten UX-Strategie besteht darin, alle Geschäftsbereiche und organisatorischen Ressourcen zu involvieren und den nutzerzentrierten Ansatz im gesamten Unternehmen umzusetzen.

Das Auslagern der UX Strategie Entwicklung an eine UX-Agentur genügt nicht. Eine solche fragmentierte, kurzfristige Sichtweise ignoriert das wahre Potenzial der User Experience für einen langfristigen Unternehmenserfolg.

Die Art und Weise, wie User Experience in Unternehmen angegangen wird, hängt stark von der Reife des Unternehmens in Bezug auf Design Thinking und nutzerzentriertes Design ab.

Unternehmen, die UX gerade erst für sich entdeckt haben, versuchen in der Regel in einem ersten Schritt, Einzelpersonen zu benennen oder ein zentrales UX-Strategie-Team aufzubauen. Diese managen das Thema UX im Unternehmen von einer zentralen Stelle aus, d.h.

  • treiben das Thema voran
  • bieten Schulungen und Beratungen an
  • definieren UX-Strategien für die Organisation oder einzelne Projekte
  • stellen UX-Dienstleistungen für die Entwicklungsteams zur Verfügung

In dem Masse, in dem sich UX als eigenständige Disziplin etabliert, kann sich aus einem UX-Strategie-Team auch eine UX-Abteilung entwickeln.

Leider kommt es immer noch häufig vor, dass diese Teams durch organisatorische Grenzen und Interessenskonflikte mit anderen strategierelevanten Abteilungen und Disziplinen behindert werden. Darüber hinaus müssen sie ständig um Aufmerksamkeit und Bedeutung kämpfen, um ihre Existenz gegenüber dem Management zu rechtfertigen.

Es kann jedoch nicht genug betont werden, wie wichtig ein effektives UX-Strategie-Team heute für ein erfolgreiches Unternehmen ist – insbesondere, um alle potenziellen Wertschöpfungspotenziale im Unternehmen zu identifizieren.

Die UX-Strategien von heute werden zweifellos den Wettbewerbsvorteil und den Marktanteil von morgen bestimmen.

Merkmale einer guten UX Strategie

  • Integration aller Interessengruppen: Sicherstellung der Einbeziehung aller relevanten Ressourcen
  • Business-Relevanz: Verknüpfung von Unternehmenszielen mit Kundenbedürfnissen.
  • Konsistenz: Berücksichtigung aller für das Unternehmen relevanten Faktoren (Markenidentität, Mitarbeiter, historischer Kontext usw.).
  • Marktverständnis: Berücksichtigung der Beschaffenheit und des Potenzials des Marktes.
  • Skalierbarkeit: Eine starke UX-Strategie ist anpassungsfähig an sich ändernde Rahmenbedingungen.
  • Messbarkeit & Erfolgskontrolle: Die Mess- und Quantifizierbarkeit der Auswirkungen der durchgeführten Massnahmen

 

Quellen:

*1: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1912; Neu-Auflage von Jochen Röpke and Olaf Stiller, Berlin 2006.
https://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Schumpeter

https://www.nngroup.com/articles/ux-strategy/

https://www.lehmanns.ch/shop/wirtschaft/56939374-9783960091776-ux-strategie